Schauspiel
Der nächste Schritt ist nun, deine Geschichte und deine Figuren zum Leben zu erwecken. Also brauchst du Leute, die diese Figuren spielen.
Hier muss als erstes folgendes gesagt sein: Die Arbeit mit Laiendarstellern, welche im Amateurbereich oft die grösste Hürde darstellt aber nun mal eine Realität ist, geht durchaus. Aber sie bedingt sehr viel Zeit, die richtige Arbeit und Vorbereitung. Folgend nun also ein paar Tips aus meiner Ausbildung:
- Auf den ersten Blick
Wir beurteilen Menschen auf den ersten Blick, ob wir das wollen oder nicht. Wir alle. Wir schätzen sie ein, stellen Vermutungen an über ihren Charakter, ihre Meinungen oder ihre Absichten und das alles passiert in etwa 2 bis 3 Sekunden. Das muss man wissen, wenn man Inszenieren will. Nun gilt es nämlich, dieses Klischeedenken zu unserem Vorteil zu nutzen und bewusst und gezielt einzusetzen.
Studien haben folgendes erwiesen: Ob wir einen Vortrag interessant finden oder nicht, hängt nur zu 7% von dessen Inhalt ab. Die restlich 93% sind die rein menschlichen Merkmale des Vortragenden. Was hat er an? Wie sieht er aus? Wie alt ist er? Wie schnell/langsam/laut/leise redet er? Wie steht er da? Wie bewegt er sich oder gestikuliert er? Was macht seine Mimik? Wie betont er? Kurz: Wie wirkt das alles auf mich. Sogenannte „non-verbale“ Merkmale, ganz unabhängig von den Worten, die da aus seinem Mund kommen. Dasselbe gilt für Schauspieler.
- Casting
Das erste, was zählt, ist nun also die Erscheinung deines Schauspielers. Was für Assoziationen ruft sein Gesicht und sein Alter beim Publikum hervor. So brutal es klingt, aber es gibt Menschen mit sympathischen Gesichtern, solche die unsympathisch aussehen, manche halten wir für intelligent, manche für dumm, manche für verständnisvoll, andere für widerliche Machos. Da lässt sich auch mit Make-Up oft nur wenig ändern. Entgegen der Meinung vieler Amateure: Es kann nicht jeder alles spielen.
Idealerweise wähle ich mir also meine Spieler so aus, dass sie bereits sehr viel von den Eigenschaften der Figur ausstrahlen. Mein erfolgreicher Banker ist also einigermassen gutaussehend, um die 30, gross. Mein Whiskeytrinker etwa 60 mit ledrigem Gesicht und Augen, die in die Seele blicken lassen. Das richtige, glaubhafte Alter ist daher unabdingbar.
Wenn du also nur 16 jährige zur Verfügung hast, dann schreib dein Drehbuch so, dass deine Figuren plausibel auch 16 jahre alt sind. Also keine Mafiabosse, keine erfolgreichen Banker, keine Jedis mit jahrelanger Erfahrung – oder überhaupt irgendwas mit jahrelanger Erfahrung. Sie sind 16....
Mit der richtigen Wahl des Darstellers hast du also die halbe Miete oder mehr. Gerade bei Laiendarstellern, die ihr wahres Ich schlechter verstecken können als ein ausgebildeter Profi.
- Don’t talk the talk, walk the walk
Genau wie beim Drehbuch gilt auch im Schauspiel, lass die Dialoge mal weg. Deine Spieler sollen versuchen, so viel wie möglich durch reine Körpersprache auszudrücken. Als erstes, trainiere also mit deinen Spielern ihre Körpersprache.
- Gehen
Lass sie etwas herumlaufen. Ja, du hast richtig gelesen. Gehen ist das Grundwerkzeug im Theater. „Gehe wie ein erfolgreicher Banker, gehe wie ein depressiver Cowboy, gehe wie eine scheue Studentin, gehe wie eine krebskranke Mutter“. Mach Gang und Bewegungsübungen zu ganz grundlegenden Emotionen wie Freude, Trauer, Wut, Langeweile, Angst. Beim Banker sieht Angst anders aus als beim Cowboy oder der Studentin. Also trainiere das auch mit deinen Spielern, damit sie ein Gefühl dafür bekommen können, wie sich diese Figur in ihrem eigenen Körper anfühlt.
- Standbilder
Lass sie ein paar Standbilder machen, die ihre Figur besonders gut darstellen. Im Theater nennt man das „Freeze“. Das heisst also, man nimmt eine Körperhaltung ein und hält die Spannung aufrecht. Kopf nach unten, Arme verschränken, Gewicht verlagern, stehend, sitzend, abwendend etc. Lass deine Spieler hier ausprobieren und gibt ihnen Feedback, ob sie die Figur so schon treffen oder nicht (aber erst, nachdem sie eine Weile ohne deine Kommentare ausprobiert haben)
- Füllhandlungen
Füllhandlungen sind die Dinge, die man unbewusst macht. Nasebohren, sich am Schritt kratzen, mit der Zunge über die Zähne fahren, in die Unterlippe beissen, Kleidung zurechtzupfen, mit der Uhr spielen, Fingernägel kauen etc. Man kann auch von „Ticks“ sprechen. Solche Füllhandlungen sagen sehr viel über einen Menschen und wie er sich in der aktuellen Sitation gerade fühlt aus. Gib deinen Spielern also Zeit, ein paar solche Handlungen auszuprobieren, die vielleicht zu ihrer Figur passen könnten.
- Tagesabläufe
Lass deine Spieler etwas improvisieren, innerhalb ihrer Figur. Was macht die Figur am Sonntag morgen? Gleich darstellen (weiterhin ohne ein Wort zu sagen). Was macht sie um 20 Uhr abends? Wie isst sie? Wie wartet sie auf den Bus? Was macht sie in der Freizeit?
Nichts davon muss in deinem Film vorkommen, aber es hilft den Spielern, sich weiter in ihre Figur hinein zu versetzen und ein Körpergefühl zu entwickeln.
- Reaktionen auf andere
Lass deine Spieler mal improvisationsmässig aufeinander los. Auch die, die im Film keine Szene miteinander haben. Wie würde man sich begrüssen auf offener Strasse? Was hätte man sich zu sagen? Wie stehen die Figuren zueinander?
- Linearität
Ein Drehbuch ist etwas lineares. Die Tür geht auf, A dreht sich um, sieht niemanden, beisst sich nervös auf die Lippe, steht auf, kratzt sich am Kopf und sagt „Ist da jemand?“.
Wir haben eine schöne Folge von Handlungen, eins nach dem anderen. Das Problem ist, wir Menschen handeln oft mit mehreren impulsen gleichzeitig und lassen verschiedene Impulse langsam ineinander fliessen. Auch das sollte geübt und wiederholt werden, damit ein natürlicher Fluss und kein auswendig gelerntes abspulen von Regieanweisungen kommt.
- Wiederholung!
Schauspielen ist wie tanzen. Es reicht nicht, kurz erklärt zu bekommen, was man zu tun hat, wenn es glaubhaft, rund und fliessend wirken soll. Es reicht nicht, intellektuell verstanden zu haben, was man spielen soll. Man muss es machen. Nicht einmal, nicht zehnmal, sondern 50 mal oder mehr. Bis nicht mehr der Kopf all die Bewegungen steuert, sondern der Körper. Bis es automatisiert ist. Erst dann ist man bereit zu spielen.
Die Wahrheit ist: Wir Menschen sind feine Lügendetektoren, die ziemlich schnell merken, wenn man ihnen einen Bären aufbindet. Also muss man überzeugend sein. Wer also mit dem Kopf noch überlegen muss, was er als nächstes für eine Bewegung macht, dem seh ich das an. Sofort.
Die Sprache
Nun kommen wir zur Textarbeit. Hier kommt es so gut wie gar nicht auf die Worte an, die man sagt (ich erinnere an die 7%), sondern fast ausschliesslich darauf, wie man es sagt, wann man es sagt und wie man es meint. Die sogenannte Meta-Sprache. Also all das, was mitschwingt, wenn wir so simple Dinge sagen wie „Hast du gut geschlafen?“.
- die 4 Zungen
Kommunikationswissenschaftler unterteilen jede sprachliche Kommunikation in 4 Teile, 4 „Zungen“. Diese 4 Teile sind, je nach Situation, wichtig zu wissen. Es schwingen immer alle 4 Teile mit und wir reagieren auch oft auf mehrere davon. Ein einfaches Beispiel:
Die Frau sitzt am Tisch. Der Mann geht in die Küche, öffnet den Kühlschrank und sagt: „Schatz, die Milch ist alle.“
Ebene 1 „Sachebene“:
Die Sachebene ist schlicht der kalte, nackte, sachliche Inhalt eines Satzes. „Die Milch ist alle“. Nicht mehr und nicht weniger. Als Autor und Regisseur wichtig: Exposition fürs Publikum.
Ebene 2 „Appellebene“
Alles was wir sagen beinhaltet einen Appell an andere, sonst gäbe es ja keinen Grund, es zu sagen. Wir wollen also, dass der andere das hört, weil wir uns was davon versprechen. Die Appellebene hier könnte also sein „Holst du bitte etwas neue Milch?“ oder gar ein Vorwurf „Warum hast du schon wieder die Milch nicht nachgefüllt“? Als Autor und Regisseur wichtig: Grund für einen Streit und die folgende Handlung bzw Emotion.
Ebene 3 „Beziehungsebene“
Wenn zwei Menschen miteinander kommunizieren, definieren sie auch ihre Beziehun. Wäre die Frau zum Beispiel eine komplett Fremde, hätte der Mann vermutlich gar nichts gesagt. Wäre sie eine Bedienstete, hätte er direkt den Befehl erteilt, neue Milch zu holen. Hier liegt der Fall eher so: „Du bist meine emotionale Bezugspartnerin, daher teile ich dir mit, dass es keine Milch mehr hat und ich offenbar unglücklich bin darüber“ oder sogar „Du bist von uns beiden diejenige, die für die Milch zuständig ist, wenn ich sie will.“ Als Autor und Regisseur wichtig: Grund für einen Statuskonflikt oder als Exposition, wie die Beziehung zwischen den beiden läuft.
Ebene 4: „Selbstoffenbahrung“
Alles was ich sage, sagt auch etwas über mich aus, dass ich es überhaupt gesagt habe. Offensichtlich ist der Mann unglücklich darüber, dass es keine Milch mehr hat. Es wollte wohl Milch und normalerweise hat es da drin welche. Dass er es überhaupt laut ausspricht zeigt seinen Charakter. Er hätte ja auch stillschweigend den Kühlschrank wieder zumachen können. Als Autor und Regisseur wichtig: Ich definiere meine Figuren mit jedem Satz, den sie sagen, sei er auch noch so unbedeutend.
- Subtext
Der „Sub“ Text ist das, was unter dem Text alles mitschwingt, unabhängig von den Worten, die verwendet werden. Neben den 4 Zungen sind das vorallem die Emotionen.
Trainiere als mit deinen Spielern, einund denselben Satz in verschiedenen Gefühlslagen zu sagen. Beginne doch mit einem einfachen Wort wie „Ja“. Probiert gemeinsam aus, wie man das betonen könnte, und was sich entsprechend am Subtext ändert. Sachliche Bestätigung, genervtes „Ich habs ja verstanden“, verliebtes „okay“, wütendes „Halt die Klappe!“, scheues „Oh Gott, bitte sprich nicht mit mir“, all das kann ich nur in dieses eine Wörtchen „Ja“ packen. Ausprobieren!
- Textsicherheit
Genau wie bei der Bewegung gilt auch beim Text: Solange die Spieler noch überlegen müssen, was für Worte ihnen da aus dem Mund fallen, können sie sich nicht auf ihr Schauspiel konzentrieren. Also kann richtige Schauspielarbeit erst dann beginnen, wenn die Spieler Textsicher sind. Ihren Text also mindestens 50 bis 100 mal gesagt haben und, ähnlich wie bei einem Lied im Radio, wo man automatisch mitsing, nicht mehr nachdenken müssen, welche Worte in welcher Reihenfolge nun kommen. Man merkt auch das. Sofort.
- Anschlüsse
Ein „Anschluss“ ist die Pause zwischen gesagten Sätzen. Tendenziell sind die Anschlüsse bei Laiendarstellern viel zu langsam. Man tendiert, zwischen jedem Satz diese eine Sekunde Pause zu setzen, damit man auch ja den anderen ausreden lassen kann. Man tendiert, erst am Ende des Satzes emotional zu reagieren. Zum Beispiel „Sie haben Krebs. Wir haben die Ergebnisse der Untersuchung eben zurückbekommen“. Das ausschlaggende Wort hier ist „Krebs“. Heisst also, die entsprechende emotionale Reaktion kommt nicht erst am Ende des nächsten Satzes, sondern nach diesem Wort.
Eine gute Übung für Anschlüsse ist folgende:
Alle Spieler einer Szene stehen in eine Reihe. Dann sprechen sie den Text ihrer Szene – nur den Text – und zwar so schnell wie möglich. Immer wenn sie Text haben, machen sie einen Schritt vor, wenn sie fertig sind, einen Schritt zurück. Dabei gilt es darauf zu achten, das keinerlei Pausen entstehen und Spieler B zu sprechen beginnt, unmittelbar nachdem A seinen Satz fertig gesagt hat.
- Proben!
Und nun, nachdem die Körpersprache sitzt, nicht mehr an den Text gedacht werden muss, der Subtext klar ist und auch deutlich herausgearbeitet werden kann, gehts ans Proben. Lass deine Spieler die Szenen ausführlich proben und mehrmals, ganz ohne Kamera, komplett durchspielen. Gibt nicht zu viele Regieanweisungen auf einmal und lass ihnen viel Zeit, alles mehrmals zu machen und zu verinnerlichen.
Und dann seit ihr so weit.