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sollthar

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Sonntag, 23. Januar 2011, 10:13

Sollthars Filmguide: Die Bildmontage

Die Bildmontage

Ganz abgesehen von der Qualität der Ausleuchtung oder Kadrierung (die Auswahl des Bildausschnitts, welche man zB. hier nachlesen kann) beschreibt die Bildmontage die gewählten Bilder in ihrer Reihenfolge oder erzählerischen Qualität. Es heisst also nicht nur, wo stelle ich meine Kamera hin, sondern vorallem: Welche Bilder verwende ich für eine Szene und in welcher Reihenfolge verwende ich sie und wie wirkt sich das auf meine Geschichte aus.

Um dies an einem Beispiel zu verdeutlichen, gehen wir von einem ganz einfachen Ein-Satz Drehbuch aus.

Ein Junge sitzt lesend unter einem Apfelbaum und ein Apfel fällt ihm auf den Kopf.

Als erstes seziere ich den Satz und überlege, welche Informationen überhaupt darin stecken, die ich dem Zuschauer vermitteln will. Da wäre mal eine Person: der Junge. Ein Ort: der Apfelbaum. Eine Handlung: das Lesen. Damit ein Objekt: Das Buch. Ein weiteres Objekt: Der Apfel. Und eine zusätzliche Handlung: Das auf den Kopf fallen.

Beispiel 1:



Ich nehme eine einzige Einstellung. Und zwar eine Totale von der Seite. Hier kann ich alle Informationen auf einmal transportieren. Man sieht, wo man ist, wer was tut und was passiert. Der Junge liest also ein wenig, dann fällt der Apfel und landet auf seinem Kopf. Fertig. Die Tatsache, dass ich den Baum grösstenteils auch zeige, nimmt nicht vorweg, was passieren wird. Es könnte auch einfach eine schöne Landschaftsaufnahme sein.

Beispiel 2:



Wieder eine einzige Einstellung, aber diesmal von vorne und etwas näher. Die nähere Wahl des Bildausschnitts verrät schon, dass mit dem Apfel etwas passieren wird - so deutlich wie er am oberen Bildrand klebt. Ich könnte ihn auch noch etwas hin und her wehen lassen um damit die Erwartung des Zuschauers zu wecken und Spannung zu erzeugen, bis er dann endlich runterfällt.


Die eigentliche Montage beginnt aber vorallem dann, wenn ich das Geschehen der Szene in kleinere Abschnitte und damit in mehrere verschiedene Aufnahmen unterteile:


Beispiel 3:



Hier spiele ich mit der Szene bereits ein wenig. Ich beginne also mit einer Weiten, um den Ort einzuführen und die Zuschauer sanft im meine kleine Geschichte zu leiten. Wir alle wissen, wo wir sind. Der Apfel fällt nicht auf, da er nicht besonders in Szene gerückt ist.
Einstellung 2 wäre nun näher am Jungen, der sein Buch liest. Damit etabliere ich meinen Protagonisten. Der Apfel ist nach wie vor nicht im Bild, weil ich nicht will, dass man weiss, was passieren wird.
Shot 3 ist nun ein Closeup des Apfels, der baumelt und schliesslich herunter fällt. Den Aufprall auf dem Kopf des Jungen löse ich ebenso in der dritten Einstellung, nur über Ton. "Bum"-"Auaaaa!" um etwas Komik aus der Situation zu holen.

Beispiel 4:



Hier zeige ich den Ort nie besonders genau und verzichte auf die Weite. Ich beginne gleich in einer näheren vom lesenden Jungen.
Einstellung 2 zeigt nun explizit, was er liest. Natürlich lass ich ihn was bestimmtes lesen, nämlich einen Text über die Schwerkraft von Newton - sonst wäre die Info, was er da liest, ja nicht relevant und bräuchte daher keine eigene Einstellung.
In Einstellung 3 spiele ich wieder mit der Erwartungshaltung und zeige sowohl Junge wie Apfel im gleichen Shot. Der Bildausschnitt nimmt vorweg, was wohl passieren wird... Bums, der Junge kippt aus dem Bild und fertig.

Beispiel 5:



Hier verändere ich lediglich die Reihenfolge derselben Einstellungen aus Beispiel 4, erzähle aber dramaturgisch eine andere Geschichte.
Dadurch, dass ich in Einstellung 1 schon klar einführe, dass da ein Apfel über dem lesenden Jungen baumelt, kann der Zuschauer von Anfang an vermuten, was passieren wird und wird wohl darauf warten, dass es passiert. Spannung entsteht.
Wenn ich nun auf Einstellung 2 wechsle, hat sie einen anderen Kontext als oben: Man wird vielleicht schon schmunzeln, weil man ja bereits antizipiert, was passieren wird.
Und in der dritten (ein wenig näheren) lass ich den Apfel dann urplötzlich ins Bild und auf den Kopf des Jungen plumpsen.

Die Veränderung der Reihenfolge einer Bildmontage bringt also eine komplette dramaturgische Veränderung.

Beispiel 6:



Erneut beginne ich anders. Nämlich mit dem Text über die Schwerkraft. Wer ihn liest und wo er gelesen wird, lässt sich nur vermuten, aber es wird in meinem Film wohl irgendwie um Schwerkraft gehen.
Einstellung 2 zeigt nun: Aha, ein Junge liest dieses Buch.
Einstellung 3, diesesmal etwas kreativer, nämlich direkt von unten, zeigt den baumelnden Apfel. Die Einstellung suggeriert ganz klar, was passieren wird und wenn der Apfel schliesslich runterfällt, wird das Bild schwarz (da der Apfel direkt auf die Kamera fallen wird) und ich nehme meinen "Bum"-"Auaaa" Ton.

Beispiel 7:



Hier will ich noch etwas mehr spielen mit den Bildfolgen. Es ist gleich wie oben, aber es kommt eine 4. Einstellung dazu, die nochmals den Jungen zeigt. Erst in Einstellung drei etabliere ich den Apfel. Nochmals auf sein "Ziel" zu schneiden kann für Komik und Spannung sorgen. Danach schneide ich wieder zurück und es geht weiter wie bisher mit meinem Soundeffekt Ende.

Beispiel 8:



Neuer Einstieg: Closeup der gebannt lesenden Augen des Jungen. Ich erzeuge Intimität und etwas Spannung.
Dann der Text. Es geht um Schwerkraft.
Nun zeige ich den bereits fallenden Apfel.
Wieder die lesenden Augen des Jungen - spätestens hier weiss der Zuschauer, was wohl passieren wird.
Wieder den fallenden Apfel - durch diese Bildmontage entsteht etwas cartoonhaftes und comicartiges.
Und schliesslich ein Soundeffekt und das Buch fällt auf den Boden ins Bild. Ich deute lediglich an, was passiert ist - man weiss es ja eh und man muss nicht immer alles zeigen, was der Zuschauer schon weiss.

Beispiel 9:



Hier erhebe ich den Apfel zu meiner Hauptrolle. Ich beginne mit ihm in einem Closeup.
2. Einstellung ist seine Perspektive auf den Jungen. Der Junge wird damit zum Hintergrund degradiert und ich bleibe nahe beim Apfel - Er ist meine Hauptfigur.
Ich höre auf mit einer extremen Weiten (Erneut: Man weiss was passieren wird) und spiele lediglich meinen "Bum"-"Auaaa" Soundeffekt ein mit viel Echo, um die Komik zu unterstützen.

Beispiel 10:



Hier inszeniere ich sehr deutlich und schaffe mir zusätzliche Momente, die mein Satz im Drehbuch zwar suggeriert, die aber nicht explizit stehen.

1: Mein Junge liest ein Buch. Ich zeige das Buch, weil das Buch in dieser Version wichtiger ist als der Junge. Den Text wird man aber nicht lesen können.
2: Nun zeige ich die Situation. Erneut zeige ich Jungen und den auffällig kadrierten Apfel. Man vermutet, was passieren wird.
3: Closeup des Texts. Es ist die Legende, als Newton der Apfel auf den Kopf gefallen sein soll.
4: Hier kommt das Neue: Der Junge reisst die Augen weit auf. Er merkt etwas.
5: Er blickt nach oben. In dieser Version hat, im Gegensatz zu allen bisherigen, mein Protagonist selbst realisiert, was passieren wird - da der Text im Buch vorweg nimmt, was in meiner Geschichte passiert, spiele ich mit zwei Erzählebenen.
6: Ich zeige seine Perspektive. In diesem Kontext wird diese Einstellung ein "Point of View", anders als in Beispielen 6 und 7, wo sie auch vorkommt, ist sie hier ganz klar die Perspektive des Jungen.
7: Nun fällt der Apfel. "Bum"-"Auaaa" und die Credits kommen.

Dieses Beispiel zeigt, dass die Beudeutung einer Einstellung von der Auswahl der vorherigen Einstellungen stark beeinflusst wird.

Fazit

Alle 10 Beispiele inszenieren das gleiche Drehbuch bzw den gleichen Satz. Alle sind sie aber unterschiedlich und alle legen sie verschiedene Schwerpunkte. Es gäbe unendlich weitere Möglichkeiten, diese Geschichte zu erzählen und unendlich Kombinationsmöglichkeiten derselben Einstellung um eben trotzdem etwas anderes zu erzählen.

Wichtig für eine gute Bildmontage in einem Film ist, dass die gewählen Einstellungen und eben deren Reihenfolge in sich stimmig sind. Ich also weiss, WARUM ich diese Einstellung gewählt habe und WARUM darauf eben jene andere folgt. Das ist der Prozess der Bildmontage und dafür zeichnet man Storyboards or erstellt Shotlisten. Man nimmt sein Drehbuch, seine Geschichte und macht sich bei jedem einzelnen Satz Gedanken: Wieso steht der da? Was will ich damit? Und mit welcher Einstellungsfolge transportiere ich das Gefühl, das ich für den Zuschauer möchte oder das die Handlung verlangt am Besten? Und dann beginnt man, sich Schritt für Schritte für eine der endlosen Varianten zu entscheiden.

Dieser Beitrag wurde bereits 1 mal editiert, zuletzt von »sollthar« (23. Januar 2011, 18:07)


Mr Dude

unregistriert

2

Sonntag, 23. Januar 2011, 12:35

Super Tutorial!

Ich hab da noch eine Frage zum 10. Beispiel: Im vorletzten Bild sieht man den Baum von unten aus der vertikal gespiegelten Ansicht des Protagonisten. Wäre es in dem Fall nicht besser aus dessen direkten Winkel zu filmen, oder würde das komisch wirken, wenn der Baum auf dem Kopf zu stehen scheint?

sollthar

unregistriert

3

Sonntag, 23. Januar 2011, 12:52

Das könnte man natürlich auch machen, stimmt! Ich habs nicht gemacht, weil mir das gespiegelte Bild nicht so gefiel - rein persönliche Ästhetikpräferenz. Aber wenn man gezielt mit dem "Auf dem Kopf stehen" spielen will, könnte man das tun.

Es gibt generell natürlich noch zig Perspektiven, die man nutzen könnte, dich nirgendwo vorkommen. :)

Schattenlord

unregistriert

4

Dienstag, 25. Januar 2011, 00:51

Ausschnitt aus den Tutorial-Regeln:

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